International Press
May 24, 2013
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Wienerin
Interview
Gottfried Helnwein im Gespräch
Sylvia Margret Steinitz
Die Retrospektive seines Werks, die ihm die Wiener Albertina zum 65. Geburtstag ausrichtet, läuft mit großem Erfolg. Die WIENERIN sprach mit Gottfried Helnwein über das Mädchen als immer wiederkehrendes Motiv, die Notwendigkeit von Feminismus und warum an Schulen Kampfsport unterrichtet werden sollte.
Gottfried Helnwein
2013
Rückblickend ist es verstörend, wie Sie bereits in den 1970ern und 1980ern in die Abgründe der österreichischen Seele geschaut haben. Seit die Fälle Kampusch und Fritzl, die Gewalt an Heimkindern und in kirchlichen Einrichtungen bekannt wurden, sehen viele Ihre Bilder in einem neuen Licht.
Ich glaube, dass Kunst visionär sein kann. Dass Künstler manchmal Dinge wahrnehmen, die andere nicht sehen können. Relevante Kunst ist der Gesellschaft immer voraus. Viele Leute haben mich damals als geisteskrank bezeichnet. Aber interessant ist, dass genau zu der Zeit, als ich die verwundeten Kinder gemalt habe, in Österreichs Heimen Kinder missbraucht, geschlagen und umgebracht wurden. Ich hab zwar auch nichts von den Vorgängen gewusst, aber irgendwie gespürt.
Man erschrickt geradezu über die Akkuranz Ihrer Darstellungen. Was, glauben Sie, hat Ihnen ermöglicht, diese verborgene Gewalt zu „sehen"?
Ich hatte gar keine Möglichkeit, es nicht zu sehen. Ich habe schon als Kind die Welt um mich herum als feindselig und unterdrückerisch empfunden. Ich war empört, dass man mich als Kind wie etwas Minderwertiges behandelt hat, denn ich habe mich immer als Person empfunden.
Sie reißen ja sehr viel auf. Taugt ihnen, dass Ihre Bilder Menschen prägen?
Ja schon. Das freut mich. Das ist mir wichtiger als alles andere. Zu wissen, dass meine Kunst vor allem bei Kindern so einen tiefen Eindruck hinterlassen hat, das ist etwas, das nicht viele Künstler sagen können. Das ist etwas ganz Besonderes.
Sie decken Dinge auf, die die meisten gar nicht sehen wollen.
Es lässt sich besser leben, wenn man nichts weiß. Aber es gibt diesen Ausspruch: „Wer die Geschichte vergisst, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen." Ich mach wahrscheinlich etwas Ähnliches, deswegen thematisiere ich immer wieder diesen Missbrauch von Kindern und die Unterdrückung der Menschheit.
Auf vielen Ihrer Bilder ist ein Mädchen die Zentralfigur. Warum?
Aus verschiedenen Gründen. In meiner Arbeit war das zentrale Thema immer das Kind. Was mich von Anbeginn an beschäftigt hat, war Gewalt gegen Schwächere. Ich hab bei meinen Kindern immer Mädchen genommen. Ich konnte so am deutlichsten die Verletzbarkeit und das Ausgeliefertsein zeigen, aber auch das Wunderbare am Menschen. Die potentielle Reinheit, aber auch, wie ausgeliefert so ein Wesen ist. Der Missbrauch von Kindern, vor allem aber von Mädchen, ist gigantisch. Schon Freud ist in seiner Psychoanalyse den traumatischen Erlebnissen sogenannter hysterischer Frauen auf die Spur gekommen: dem Missbrauch in der Kindheit, oft durch Männer aus dem familiären Umkreis, oder sogar durch den eigenen Vater. Ich nehme an, dass er das nicht weiterverfolgen konnte, weil es ihn seine Karriere und möglicherweise sein Leben gekostet hätte. Die prüde Spießergesellschaft der Gründerzeit hätte sich solche Enthüllungen niemals gefallen lassen.
Unter seinen Kollegen waren ja auch Täter.
Natürlich. Er hat dann die Arbeit in diese Richtung abgebrochen und ist abgeirrt, aber er war auf der richtigen Spur. Wie gefährlich es war, diese Dinge auszusprechen, hat man am Schicksal von Dr. Semmelweis gesehen, der wegen seiner bahnbrechenden Entdeckungen ins Irrenhaus gesperrt wurde und dort elend verreckt ist. Frauen haben aber heute noch andere Probleme.
Welches sehen Sie vor allem?

Heute haben einen immer größer werdenden Teil der Welt, wo Frauen wie Säcke herumgehen müssen. Das ist neu, denn Mitte des 20 Jahrhunderts waren in islamischen Ländern viele dieser alten Gebräuche verschwunden und die Gesellschaft in diesen Ländern war relativ moderat. Meine Frau ist Anfang der 1970er Jahren alleine und unbehelligt durch die ganze islamische Welt gereist: Türkei, Iran, Pakistan, Nepal, Afghanistan ... Damals waren die Menschen vor allem in Afghanistan ungeheuer gastfreundlich. Frauen waren relativ frei und mussten keinen Schleier tragen. Die Radikalisierung der letzten Jahre wurde vor allem durch den weltweiten Einfluss der radikalen, fundamentalistischen Wahabiten-Sekte der Saudi Araber verursacht, die mit ihren Öl-Milliarden die ganze Islamische Welt indoktrinieren und fanatisieren. Auf der anderen Seite gibt es im Westen vor allem für junge Frauen diesen Druck, so spärlich wie möglich gekleidet zu sein, und es ist, wie man bei Pop-Sängerinnen sieht, cool, sich wie ein Pornostar zu präsentieren. Deswegen finde ich, dass Feminismus immer noch unentberlich ist. Es kann sein, dass sich die Aufgabenbereiche ändern, aber Frauen und Mädchen werden immer noch Opfer und sind gefährdet. Weltweit ist die Sklaverei heutzutage größer als in der Zeit, als sie noch legal war. In Amerika verschwinden tausende von Kindern, die nie wieder auftauchen. Kürzlich hat man ja in Amerika wie durch ein Wunder drei Frauen entdeckt und befreit, die von einem Mann über zehn Jahre in seinem Haus in Ketten gefangen gehalten wurden. Die Fritzls gibt es überall, nicht nur in Österrei
Info
Gottfried Helnwein zählt international zu den bedeutendsten österreichischen Künstlern. Anlässlich seines 65. Geburtstags widmet ihm die Albertina seine erste Retrospektive in Europa.
Über 150 Arbeiten aus allen Werkphasen geben Einblick in Helnweins Schaffen, das von der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, deren Reiz- und Tabuthemen geprägt ist.
Gottfried Helnwein
Retrospektive
25. Mai 2013 - 13. Oktober 2013
Albertina Wien
Übrigens: Die WIENERIN lädt 15 Leserinnen mit Begleitung zur Gratis-Führung am Mittwoch, den 12. Juni um 18 Uhr.




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