International Press
In-das-Gedaechtnis-der-Gesellschaft
April 2, 2014
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Die Presse
In das Gedächtnis der Gesellschaft
Ani Gülgün-Mayr
Kunst muss Emotionen auslösen: Lachen, Weinen, Neugierde, Wut oder auch Beklemmung. Dann ist es Kunst.
...und der Stargast in „Kultur heute“, Gottfried Helnwein, ein Künstler, der die Gräuel des Nationalsozialismus in seinen hyperrealistischen Werken dermaßen hemmungslos aufzeigt, dass man die Wiener Albertina mit Beklemmungszuständen verlassen hat.
Wie viele hätten gewusst, wo Guernica liegt, hätte nicht Picasso die Zerstörung dieser Stadt während des spanischen Bürgerkrieges auf Leinwand gebannt. Auf die Frage eines deutschen Generals, ob er dieses Bild gemalt habe, antwortete Picasso: „Nein, Sie haben es gemalt, Herr General.“
All die Schrecken, die diese Stadt dem Erdboden gleichmachten, hat Picasso durch „Guernica“ im Gedächtnis der Gesellschaft verfestigt. Auch heute wird dieses Kunstwerk immer noch in aktuellem Zusammenhang mit Zerstörung und Krieg in Erinnerung gerufen.

Ein weiteres meiner Lieblingsgemälde ist „The Artist and His Mother“ von Arshile Gorky. Gorky malte dieses Bild einer Schwarz-Weiß-Fotografie nach. Der junge Gorky steht neben seiner Mutter, es gibt keine Berührung zwischen ihnen. Die Hände der Mutter wirken bandagiert.

Laut Überlieferung malte der Künstler die Hände, verwischte sie jedoch wieder. Keine Berührung in der Gegenwart und auch nicht in der Zukunft.

Denn Vosdanig Manoug Adoian, wie Arshile Gorky mit bürgerlichem Namen hieß, sah, wie seine Mutter während der Deportationen zur Zeit des Genozids an den Armeniern verhungerte. Sie starb in seinen Armen. Das Gemälde, eine emotionale Beschwörung der persönlichen und nationalen Tragödie. Für mich ist es eines der mächtigsten Porträts des 20.Jahrhunderts.

Zugänglich für alle

Kunst muss wohl zum Nachdenken anregen, muss ins Gedächtnis der Gesellschaft dringen, muss neugierig machen auf die Intention des Künstlers. Sie muss dazu bringen, sich näher mit dem durch das jeweilige Kunstwerk Angesprochenen auseinanderzusetzen. Dann ist sie gelungen.

Kunst darf nicht als Selbstdarstellung gesellschaftlicher Schichten dienen. Sie muss zugänglich sein und zugänglich gemacht werden. Für alle. Die Nähe eines Künstlers zum Nationalsozialismus ist dabei genauso abstoßend wie die Nähe zu jedem anderen faschistoiden System. Ganz gleich, welches Genie uns begegnet. Denn Kunst ist auch Politik. Kunst ist sogar manchmal politischer als die Politik selbst. Kunst muss am Puls der Zeit sein. Kunst muss erkennen, noch bevor das Erkannte sich ausbreitet.

Persönliche Hitparade

2013 hatten wir über 100 Studiogäste, x Beiträge in unserer werktäglichen ORF-III-Sendung „Kultur heute“. Wenn ich mir die Frage stelle, welcher Künstler, welches Stück, welche Oper, welcher Film besonders beeindruckend für mich gewesen sind, erklärt sich mein Kunstbegriff wohl von selbst.
Es war nicht der „Jedermann“ in Salzburg, auch nicht der 200.Geburtstag von Wagner, die mich berührt haben. Es war die Inszenierung „Gegen die Wand“ der Garage X, der Studiobesuch der kürzlich verstorbenen ORF-Legende Karl Löbl und der Stargast in „Kultur heute“, Gottfried Helnwein. Ein sogenanntes Off-Theater also, am Rande des etablierten Theaterbetriebes, ein Kulturkritiker, der sich nie ein Blatt vor den Mund nahm, und ein Künstler, der die Gräuel des Nationalsozialismus in seinen hyperrealistischen Werken dermaßen hemmungslos aufzeigt, dass man die Wiener Albertina mit Beklemmungszuständen verlassen hat.
Kunst muss Emotionen auslösen. Lachen, Weinen, Neugierde, Wut und Beklemmung. Dann ist es Kunst. Dass wir als Kulturjournalisten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nicht nach persönlichen Kriterien bei der Auswahl unserer Themen vorgehen, versteht sich von selbst. Unsere Aufgabe ist es, etwas über das Gezeigte hinaus zu erkennen, zu assoziieren und unserem Zuschauer zu vermitteln.
Ani Gülgün-Mayr (*1970 in Istanbul) ist Präsentatorin der ORF-III-Kultursendung „Kultur heute“.
Epiphany I (Adoration of the Magi)
2013, Helnwein-Retrospective at the Albertina Museum Wien
Helnwein-Retrospective at the Albertina Museum Wien
2013
I Walk Alone
mixed media (oil and acrylic on canvas), 2003




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